Meine Mutter lebte nach einer tiefen Überzeugung: Das Leben bietet unzählige Möglichkeiten, und jeder Mensch ist, unabhängig von seiner Bildung oder seinen Umständen, fähig, das Beste aus seinem Leben zu machen.
Dabei war ihr eigener Lebensweg alles andere als einfach
Der Zweite Weltkrieg raubte ihr die Kindheit – sie erlebte ihn als junges Mädchen im Kaukasus, mit allen Härten, die er mit sich brachte. Nach nur vier Schulklassen wurde sie mit etwa 16 Jahren aus ihrer Familie herausgerissen und in sogenannte „Arbeitsarmeen“ geschickt – Zwangsarbeit unter extremen Bedingungen.
Wenn ich über meine Mutter schreibe, kommt unweigerlich die Frage auf: „War deine Mutter etwa fehlerlos? War bei ihr alles richtig und gut?“ Meine Antwort darauf ist stets: „Wo Licht ist, da ist auch Schatten.“ So wie jeder Mensch beides in sich trägt, so trug auch sie Licht und Schatten. Dennoch habe ich mich entschieden, die Aspekte ihres Lebens zum Vorbild zu nehmen, die mich stark und positiv geprägt haben.
Meine Mutter war eine Heldin
Sie war eine Heldin. Trotz der vielen Widrigkeiten, die das Leben ihr auferlegte, war sie eine mutige und sehr starke Persönlichkeit. Ihre Hingabe für die Familie bleibt für mich bewundernswert und gleichzeitig ein Geheimnis. Wenn wir kaum etwas zu essen hatten, nahm sie einen Kinderwagen, manchmal sogar mit zwei Kindern, und verputzte Häuser für andere. Und wir waren nicht wenige – elf Kinder an der Zahl.
Sie hat mir die Liebe zum Lesen und Schreiben vermittelt. Als ich noch klein war, las sie mir aus der Bibel vor – und erzählte ihre eigenen Geschichten dazu. Besonders erinnere ich mich an die Erzählungen über ihren Vater – ein geschickter Unternehmer, der als Mitglied einer Kaufmannsgilde seine Familie durch schwere Zeiten brachte. Bildung war ihr wichtig, auch wenn sie selbst kaum Zugang dazu hatte.
Meine Mama gab mir einen ganz besonderen Rat mit auf den Lebensweg: „Mein Junge, sagte sie, du bist ein besonderer und außergewöhnlicher Mensch. Finde deinen Platz im Leben und mache einen Unterschied. Du bist dazu fähig – und auch bestimmt, denn ich kenne deine Bestimmung.“
Ihre Aussage und ihr unerschütterlicher Glaube an mich prägten mich tief, auch wenn mir bewusst ist, dass jeder Mensch etwas Besonderes und Einzigartiges ist. Dafür lebe ich nach diesen Prinzipien, die ich von meiner Mutter gelernt habe und die ich auch an andere weitergebe:
- Liebe das Leben: Es ist kostbar und kommt nicht wieder. Schütze das Leben und gehe respektvoll damit um.
- Finde deinen Platz: Finde deinen einzigartigen Platz im Leben und leiste deinen unverwechselbaren Beitrag dazu.
- Erkenne deine Einzigartigkeit: Denke daran, dass du einzigartig und einmalig bist. Vergleiche dich mit niemandem außer mit dir selbst von gestern.
- Investiere in Bildung: Investiere ständig in deine Bildung und Weiterentwicklung. Alt wirst du so oder so. Wenn du alles schleifen lässt oder dich anstrengst – strenge dich an und lass dich nicht treiben, denn das bringt dich immer vom Weg ab, wer du sein solltest.
- Achtsamkeit mit Ressourcen: Gehe sehr achtsam mit deinem Körper und deinen Ressourcen um. Überschreite nicht die Grenzen deiner Belastbarkeit. Wenn meine Mutter krank wurde, legte sie jede Arbeit beiseite und kurierte sich aus. Danach konnte sie wieder mit vollem Einsatz weiterarbeiten.
- Liebe das Übernatürliche: Es gibt bei unserem Herrn mehr, als Menschen es versuchen darzustellen. Gott, der Gott der Geschichte, ist großartig, und der Gott der Gegenwart auch. Er soll in deinem Leben sichtbar sein.
- Dankbarkeit und Genuss: Genieße das Essen und denke daran, dass es etwas Besonderes ist, wenn du es hast. Sei dankbar für das, was du hast.
- Bescheidenheit: Sei bescheiden und nicht verschwenderisch.
- Raum für andere Talente: Schaffe Raum, um dich durch die Talente und Fähigkeiten anderer Menschen beschenken zu lassen.
Meine Mutter hat keine Bücher geschrieben, keine Bühne betreten, keine Titel getragen. Aber sie hat ein Leben geführt, das bis heute in mir nachhallt. Ihre Stärke, ihre Worte, ihr Glaube und ihr unermüdlicher Einsatz haben Spuren hinterlassen – und sie helfen mir, auch anderen Orientierung zu geben.
Sie war stärker als das Schicksal. Und ich bin dankbar, dass ich ihr Sohn bin.

